Die Schrecken des Krieges überfallen Islam Melikov und seine Familie in der Nacht. Um 4.30 Uhr beginnen die Russen Charkiw, die Metropole im Nordosten der Ukraine, heftig zu bombardieren. In der Stadt herrscht schnell Panik, und auch die Melikows haben höllisch Angst. Mit ihren beiden Söhnen sitzen die Eltern in ihrer Wohnung und wissen nicht, was sie tun sollen. Um 6 Uhr kommt die Tochter mit ihrem Mann und dem eineinhalbjährigen Kind dazu.
An einen langen Krieg glaubt zunächst niemand. “Wir dachten, in drei bis fünf Tagen ist das vorbei”, erzählt Islam später. Charkiw sei ohnehin eine Stadt, in der man russich spreche und eine russisch geprägte Kultur lebe. “Hier wurde niemand unterdrückt, wen sollte man befreien”, sagt er.
Als die Bombardements weitergehen, sucht die Familie im Keller einer nahegelegenen Schule Schutz. Fünf Tage bleiben sie dort. Sie hören Schüsse und die Detonationen von Bomben. Es wird immer schlimmer. Wenn die Bomben explodieren, beben die Wände im Keller. Ein Sohn bekommt solche Angst, dass er ohnmächtig wird. “Da wusste ich: Wir müssen weg”, berichtet Islam.
Die Familie verlässt morgens den Keller und fährt zum Bahnhof. Für das Kleinkind packen sie ein paar Sachen ein. Sie selbst haben nur noch das, was sie auf dem Leib tragen – Hose, Hemd, Winterkleidung. Ende Februar ist es kalt in der Ukraine.
Am Bahnhof im Zentrum von Charkiw drängen sich bereits Massen von Flüchtlingen, die die Stadt Richtung Westen verlassen wollen. Es herrscht Angst. Als in der Nähe eine Bombe einschlägt, bricht einmal mehr Panik aus, berichtet Islam.
Der Familie gelingt es schließlich, in einen Zug Richtung Lwiw in der Westukraine zu steigen.
Die Wagons sind total überfüllt.
Die Menschen stehen dicht an dicht in den Abteilen und den Gängen. Auch Islam und seine Söhne müssen stehen. Aber Immerhin: Für die Tochter und ihr Kleinkind machen die Menschen einen Sitzplatz frei.
Nicht alle können Richtung Westen reisen. Islams Schwiegersohn ist im wehrfähigen Alter. Er muss aussteigen und sich beim Militär melden. Aber Islam darf im Zug bleiben. Er besitzt einen aserbaidschanischen Pass. Daher wird er nicht zum Militär eingezogen.
Bis zum nächsten Morgen stehen sie dicht gedrängt in den Wagons. Um 4 Uhr fährt der Zug in den Bahnhof von Lwiw ein.
Freiwillige nehmen sie in Empfang und verteilen Essen.
“Wir waren alle furchtbar müde”, erinnert sich Islam.
Am 3. März geht es weiter. Ohne etwas bezahlen zu müssen, können die Melikovs mit einem Bus nach Polen fahren und werden dort gut aufgenommen. Zunächst kommen sie in einem Supermarkt-Gebäude unter. Weil sie mit dem Kleinkind unterwegs sind, dürfen sie dann sogar in eine Turnhalle umziehen. Ein Vorzug, für den sie dankbar sind: “Dort war es warm und es gab Betten.”
Nach drei Tagen geht es weiter nach Westen. Die Familie steigt in einen Kleinbus, der sie nach Braunschweig bringt. Nach einer Nacht im Hotel kommen sie im Kreis Wolfenbüttel unter. Zunächst leben sie in Lucklum, dann in Kissenbrück und schließlich in Wolfenbüttel.
Islam ist dankbar. Trotzdem will er wieder nach Charkiw zurück. Im Sommer habe er dort ein Lebensmittelgeschäft betrieben, im Winter sei er Taxi gefahren. “Charkiw ist meine Heimat. Wir hatten dort ein schönes Leben.”
Wir organisieren Unterkünfte, Veranstaltungen und vieles mehr für Flüchtlinge aus der Ukraine. Viele Familien benötigen ein neues Heim. Wir geben den Ukrainerinnen und Ukrainern hier eine Plattform um ihre Geschichten zu erzählen.
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