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Mykola Deriahyn

Eine Irrfahrt mit der Tochter durch fünf Länder

Mit einem Schlag ist Mykola Deriahyns gewohntes Leben am 24. Februar 2022 zu Ende. Morgens wecken ihn laute Sirenen, in Chernihiv im Norden der Ukraine herrscht Luftalarm. Der Krieg hat begonnen. Für den 32-jährigen Alleinerziehenden und seine fünfjährige Tochter ist es der Anfang einer Irrfahrt, die mehr als zwei Monate dauert und schließlich durch fünf europäische Länder bis nach Wolfenbüttel führt.

Schon als am Morgen des ersten Kriegstages die Sirenen schrillen, ist für Mykola klar: Er und seine Tochter müssen weg. Die 300.000 Einwohner-Stadt im Nordosten der Ukraine liegt viel zu nah an der Grenze zu Russland und Weißrussland. Statt wie gewohnt das Kind in den Kindergarten zu bringen und dann zur Arbeit auf die Baustelle zu fahren, packt er eilig ein paar Kleidungsstücke in Taschen. Zunächst kommen die beiden bei der Mutter einer Bekannten am Stadtrand unter. Das erscheint immerhin etwas sicherer. Aber nachts hören sie Schüsse. Am nächsten Tag beschließt die Familie, zur Großmutter aufs Land zu fahren. Zu zwölft sind sie, neun Erwachsene und drei Kinder in zwei Autos. Und sie kommen gerade noch rechtzeitig weg: “Unterwegs haben wir erfahren, dass die Russen Chernihiv schon besetzt haben”, erzählt Mikola.

Aber der Krieg rückt rasch näher.

Die Front schiebt sich bis auf 15 Kilometer an das Haus der Großmutter heran.

Kampfjets donnern über das Dorf hinweg, das Essen wird knapp. Sie haben kein Mehl mehr, kein Öl und auch kein Klopapier. Doch dann erfährt Mykola, dass man die nahe Grenze nach Belarus überqueren kann, um einzukaufen. Und es klappt. Er kommt mit neuen Vorräten zurück. Super-vorsichtig sei er gewesen, erzählt er.
Eineinhalb Monate blieben sie im Dorf im Haus der Oma. Dann hatte das ukrainische Militär Chernihiv befreit. Die Bewohner konnten zurück. Aber die Stadt war kein Platz mehr zum Leben für ihn und seine Tochter.

Mykola zeigt auf seinem Handy Bilder von zerstörten Wohnhäusern.

”Es gab humanitäre Hilfe, aber alle Geschäfte waren geschlossen”, erzählt er. Nach einer Woche machen sich die beiden wieder auf die Flucht. Mit dem Auto fahren sie in die Westukraine. Mykola erzählt von zerstörten Straßen, gesprengten Brücken, Staus und vielen Streckenposten.

Schließlich kommen die beiden in einem Hotelzimmer in den Karpaten unter. “Wir waren ein paar Tage in der Natur und sind spazieren gegangen”, sagt er, und es klingt erstaunlich friedlich.

Aber eine Perspektive ist nur schwer zu finden.

Benzin ist teuer. Hotelzimmer sind noch teurer.

Schließlich vermittelt ein Freund einen Kontakt nach München. Von dort sollte es weiter nach Italien gehen. Aber von Italien rät der Freund ab. Dann ist Leipzig im Gespräch, aber auch dort ist die Aufnahmesituation in der Zwischenzeit schwierig. Schließlich erhält Mikola von seinem Freund die Kontaktadresse von Andre Volke. Der lädt ihn ein, nach Wolfenbüttel zu kommen.

Dreieinhalb Tage sind er und seine Tochter mit dem Auto unterwegs zu ihrem neuen Ziel. Über Rumänien, Slowenien, Österreich geht die Reise bis nach Niedersachsen.

Nun leben sie in Wolfenbüttel in einer Sozialwohnung. Die Tochter geht in einen Kindergarten. Mykola kann sich gut vorstellen, hier zu bleiben: “Ich will die Sprache lernen und eine Arbeit finden. Das ist meine Perspektive.”