Viktor Melnikov war sich ganz sicher: Es wird keinen Krieg geben. Zum Äußersten wird es nicht kommen. Der Aufmarsch russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine diente nur der Panikmache. Angst sollte er den Ukrainern machen, so glaubte er.
Am Morgen des 24. Februar erlebt er, dass er sich geirrt hat. Sirenen heulen. In Berdjansk, der 115.000 Einwohner-Stadt am Asowschen Meer, herrscht Luftalarm. Im nahen Militärstützpunkt schlagen Raketen ein, Bomben explodieren. In der Stadt leben die Menschen in Angst.
Es gibt keine Luftschutzkeller.
Dafür ist das Meer viel zu nah. Das Wasser würde Kellerräume einfach fluten. Der 42-Jährige bleibt zu Hause in der Wohnung. Draußen kann er sich ohne fremde Hilfe ohnehin nur schlecht bewegen. Seit er im Alter von 20 Jahren beim Arbeiten auf dem Bau von einem hohen Gerüst fiel und sich an der Wirbelsäule verletzte, ist er querschnittsgelähmt. Er ist auf einen Rollstuhl angewiesen.
Mit seiner Frau und seiner Mutter erlebt er die Luftangriffe. Sie hören Flugzeuge, Raketen und die Detonationen von Bomben. In der Wohnung machen sie das Licht aus und leben im Dunklen, um etwas sicherer zu sein.
Anfang März wird die Stadt von russischen Truppen besetzt. Im Hafen liegen russische Schiffe. Die Stadt sei nicht verteidigt worden, berichtet Viktor.
Die Situation ist ohnehin schwierig. Aber für noch mehr Angst sorgen die schrecklichen Nachrichten aus dem nahen Mariupol. In der Stadt, die von den Russen zerstört wird, lebt auch die Tochter von Viktors Frau mit ihrem Mann. Jeden Tag hoffen sie, dass die beiden fliehen können, aber sie bekommen lange kein Lebenszeichen. Es gibt nur die Bilder aus dem Fernsehen. Am 12. März ruft endlich die Tochter an. “Es war eine Minute, in der wir glücklich sein konnten. Wir wussten: Die Familie ist nicht tot”, erzählt Viktor.
Und dann kommen in Berdjansk für kurze Zeit sogar wieder alle zusammen. Die Tochter und ihr Mann werden mit einem russischen Bus aus Mariupol evakuiert.
In Berdjansk zu leben wird immer schwieriger. Der Strom fällt immer wieder aus. Manchmal gibt es kein Wasser, und Lebensmittel bekommen die Bewohner nur, wenn ein Hilfstransport die Stadt erreicht.
Als Viktor mit einem Freund telefoniert, der aus Dnipro geflohen ist und nun in Magdeburg in Sicherheit lebt, will auch er weg. Aber die Tochter, die schwanger ist, hat Angst.
Schließlich trennt sich die Familie.
Viktor und seine Mutter machen sich auf die Flucht, die anderen bleiben. Die Stadt zu verlassen ist nicht leicht. Sechsmal kehrt der Bus um, in dem die beiden sitzen. Russische Soldaten haben die Straßen blockiert. Schließlich steigen Mutter und Sohn in ein Taxi. 90 Euro bezahlen sie für die Fahrt nach Saporischschja. Das entspricht fast der monatlichen Mindestrente in der Ukraine. Aber die beiden sind aus Berdjansk raus. Russischen Posten müssen sie nichts bezahlen.
In Saporischschja wollen Viktor und seine Mutter mit dem Zug weiter. Aber am Bahnhof müssen sie drei Tage warten. Dann geht es über Lwiw nach Przemysl in Polen. 24 Stunden ist der Zug unterwegs. Die Wagons sind vollkommen überfüllt.
Berlin, Magdeburg und Hannover sind die weiteren Stationen, bis die Odyssee schließlich in Wolfenbüttel endet.
Viktor sitzt im Rollstuhl. Als Maurer arbeiten kann er nicht mehr. Aber das Schneiderhandwerk hat er ebenfalls gelernt. “Vielleicht finde ich hier Arbeit”, sagt er.
Wir organisieren Unterkünfte, Veranstaltungen und vieles mehr für Flüchtlinge aus der Ukraine. Viele Familien benötigen ein neues Heim. Wir geben den Ukrainerinnen und Ukrainern hier eine Plattform um ihre Geschichten zu erzählen.
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