Es ist die furchtbarste Nacht ihres Lebens, sagt Alona Velynska rückblickend. Als es am 24. Februar in Kiew dunkel wird, ist die promovierte Biochemikerin zunächst zu einer Bekannten in die Wohnung geflüchtet. Es herrscht Luftalarm, Sirenen schrillen, draußen ist es stockdunkel. Alona sieht immer wieder Blitze, sie hört Detonationen und spürt die Druckwellen der Explosionen, die die Wände erschüttern.
Der Krieg ist da.
Die beiden jungen Frauen hören permanent Nachrichten. Sie erfahren, welche Straßenzüge von Raketen angegriffen werden, aber sie wissen nicht, wie nah die tödliche Gefahr schon gekommen ist. “Immer noch wenn ich daran denke, ist es ein schreckliches Gefühl”, sagt Alona, als sie ihre Fluchtgeschichte in Wolfenbüttel erzählt.
Schließlich suchen sie Schutz in einer nahegelegenen Tiefgarage. “Es kamen immer mehr Menschen rein,” erinnert sich Alona: Es sind Mütter, Alte, Eltern mit Kindern, viele sind in Todesangst. Zudem ist es eiskalt. Sitzen kann man nur auf dem nackten Betonboden. Ein paar Mutige verlassen die Tiefgarage, um nach Kisten und anderen möglichen Sitzgelegenheiten zu suchen. Alona geht die ganze Nacht auf und ab.
Morgens ist sie erschöpft und bekommt hohes Fieber – 39 Grad.
Sie verlässt die Tiefgarage. In Kiew haben die Apotheken geschlossen. Aber in der Wohnung der Bekannten kann sie sich mit ein paar Medikamenten versorgen. Eine Woche bleibt sie in der Wohnung. Auch wenn Luftalarm ist, verlässt sie das Haus nicht mehr. Sie betet. “Es ist schwierig zu akzeptieren, dass Krieg ist”, sagt sie später. Sie habe sich verlassen gefühlt, auch weil Prominente aus den Medien den Angriff der Russen entweder befürworteten oder einfach aus der Öffentlichkeit verschwanden.
Dass sie gesund wird, erlebt sie als ein Zeichen, weiter leben zu dürfen. Sie unterzeichnet Petitionen und schreibt Briefe an russische Prominente. “Die Welt soll verstehen, was in der Ukraine passiert”, sagt sie.
Der Krieg und die permanente Bedrohung setzen den Menschen auch psychisch extrem zu. Im Haus wird die Stimmung immer aggressiver. Nachdem sie eine Woche bei der Freundin gelebt hat, drohen ihr die Nachbarn: Sie soll ausziehen, sonst passiere etwas Schlimmes.
Daraufhin nimmt Alona ihre Winterjacke und verlässt die Wohnung.
Ihre Familie lebt in der Nähe der russischen Grenze. Dorthin kann sie nicht fliehen. Also geht sie zum Bahnhof.
Sie steigt in einen Zug, der nach Polen fährt.
Neun Stunden ist er normalerweise unterwegs. Diesmal dauert die Reise jedoch fünf Tage. Die Menschen im Zug teilen Wasser und Essen. Unterwegs werden sie in einem kleinen Dorf von Freiwilligen versorgt. “Ich war so glücklich. Ich habe mir den Namen aufgeschrieben. Ljuboml heißt der Ort”, sagt Alona.
Anders erlebt sie die Stadt Chelm in Polen. Als die Flüchtlinge dort aus dem Zug steigen, werden sie von vielen Journalisten fotografiert. “Wir hatten uns fünf Tage nicht gewaschen und waren todmüde. Ich habe mich gefühlt wie eine Beute”, sagt sie.
Sie nimmt den nächsten Zug Richtung Westen, schläft sieben Stunden und steigt dann in Poznan aus. Es ist wie eine Erlösung für sie: “Ich habe gespürt, dass ich überlebt habe.” Zunächst plant sie, in Polen zu bleiben. Aber sie versteht die Sprache nicht und findet keine Arbeit. Dann liest sie im Internet, dass in Deutschland Wissenschaftler gesucht werden. Sie reist weiter. Ihr großer Wunsch in Wolfenbüttel ist nun eine kleine Wohnung.
Wir organisieren Unterkünfte, Veranstaltungen und vieles mehr für Flüchtlinge aus der Ukraine. Viele Familien benötigen ein neues Heim. Wir geben den Ukrainerinnen und Ukrainern hier eine Plattform um ihre Geschichten zu erzählen.
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Henning Kramer
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