Gesichter der Ukraine

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Daria Nikitina

Poltawa

Ukraine Map

Mit dem Prime Orchestra als kulturelle Botschafterin unterwegs

Der Anruf kommt am Donnerstag, 24. Februar 2022 ganz früh. Kurz nachdem die ersten Sirenen vor Luftangriffen gewarnt haben, klingelt bei der Musikerin Daria Nikitina das Handy. Ihr Chef ist dran, der Leiter einer Musikschule in Poltawa. Darias Chef ordnet kurzentschlossen Online-Unterricht an – zum Schutz seiner Mitarbeiter und seiner Schüler.
„Wir konnten einfach nicht auf die Straße gehen. Es war zu gefährlich“, erzählt die 29-Jährige.

Daria ist eine ausgebildete Musikerin.

Fünf Jahre studierte sie in Charkiw in der Ostukraine Kulturwissenschaften. Im knapp 200 Kilometer westlich gelegenen Poltawa unterrichtet sie klassische Gitarre, Elektrogitarre und E-Bass. Dass sie ihre Schüler dabei nur übers Internet am Bildschirm sehen kann, ist für sie nicht neu. Online-Unterricht ist seit der Zeit der Corona-Lockdowns eine eingeübte Praxis.

Trotz häufiger Luftalarme bleibt es in der 300.000 Einwohner-Stadt relativ sicher. Die Menschen können zwar das Donnern der Kampfjets hören, Poltawa wird aber kein Kampfgebiet. Trotzdem verändert sich der Alltag, erzählt Daria. Die jungen Männer werden zum Militär eingezogen. Die Einwohner spenden Geld, Kleidung und Essen, um Menschen in anderen Städten zu unterstützen. Poltawa ist eine Stadt, die anderen Städten hilft“, sagt Daria und dabei schwingt Stolz in ihrer Stimme mit.

Sie engagiert sich, um Waisenkindern zu helfen, die aus anderen Gebieten der Ukraine in die Stadt kommen. Drei bis fünf Jahre alt sind die Kinder. Daria und andere Freiwillige spielen mit ihnen, geben ihnen zu essen und beruhigen sie.

In ihrem Haus nimmt sie zwei Flüchtlinge auf. Sie kommen aus Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine ist häufig Ziel russischer Angriffe. „Es ist gefährlich, dort zu leben“, sagt Daria.

Während die Bomben fallen, entsteht in Charkiw aber auch die Idee eine Kulturprojekts, das in Europa für die Ukraine werben soll. Das Prime Orchestra, eine 34-köpfige Gruppe aus Profi-Musikern soll auf Tournee gehen und mit einem Programm aus Pop- und Rock-Hits das Land als frei, modern und weltoffen präsentieren.

Weil im Orchester noch der Posten des Bassisten zu besetzen ist, erhält Daria erneut einen Anruf. Diesmal ist einer der Leiter des Ensembles am Telefon. Er fragt, ob sie mit auf Tournee gehen will. Die Entscheidung fällt ihr schwer.

Die Tournee reizt sie. Und im Krieg will sie auch etwas für ihr Land tun.

Aber es gibt auch eine Kehrseite. Sie muss ihre Arbeitsstelle in der Musikschule aufgeben. Und dort verdient sie schließlich ihren Lebensunterhalt.

Als ihr Chef versichert, sie könne nach der Tour wieder unterrichten, sagt sie schließlich zu.

Einen Monat soll sie mit dem Prime Orchestra unterwegs sein. Die Tour führt durch Polen und Lettland. Ende Mai kehren Daria und die anderen Musiker in die Ukraine zurück, aber da ist schon die nächste Tournee geplant. Diesmal geht es im Rahmen eines Unesco-Projekts nach Deutschland. Hannover, Einbeck, Osnabrück und die Landesmusikakademie in Wolfenbüttel stehen auf dem Tournee-Plan. Danach gerät der Ablauf ins Stocken. Geplante Auftritte in Polen sind abgesagt. Daria steckt mit dem Prime Orchestra in Wolfenbüttel fest. Ohne Konzertverpflichtungen müssten die Musiker in die Ukraine zurückkehren. Andre Volke und Henning Kramer, die sich stark in der Ukraine-Hilfe der Stadt engagieren, organisieren nun weitere Auftritte für das Orchester.

Daria erzählt von einer geplanten Tournee, die sie im September und Oktober nach Polen und in die Tschechei führen soll. „Wie es dann weitergeht, ist unklar“, sagt sie: „Wenn wieder ein Lockdown kommt, müssen wir nach Hause, sonst können wir vielleicht über Winter hier bleiben und weiter als kulturelle Botschafter arbeiten.“