Gesichter der Ukraine

Logo Gesichter der Ukraine3

Familie Piskovska

Awdijiwka

Ukraine Map

Die Front geht mitten durch die Heimat

Als die russische Armee am 24. Februar 2022 die Ukraine überfällt, gehört der Krieg für die Menschen in Awdijiwka längst zum Alltag. Die Stadt mit den vielen Plattenbauten liegt nur etwa 20 Kilometer von der Stadt Donezk entfernt. Seit 2014 kämpft dort die ukrainische
Armee gegen prorussische Separatisten. Stadtviertel werden besetzt, verloren und wieder zurückerobert. Als es 2016 wieder einmal besonders schlimm wurde, evakuieren ukrainische Behörden sogar rund die Hälfte der 35.000 Einwohner. So kann man es auf Wikipedia nachlesen.

Viktoria Piskovska und ihre Familie haben zu diesem Zeitpunkt ihre erste Flucht bereits hinter sich.

2014 wird Awdijiwka zu einer Frontstadt.

Die Piskovskas suchen in der Nachbarstadt Myrnohrad Sicherheit vor Granatenbeschuss. Erst nach eineinhalb Jahren kehren sie zurück. „Damals war es einfach zu gefährlich“, erklärt Viktoria.

Richtig friedlich wird es in Awdijiwka jedoch nicht mehr. Immer wieder wird geschossen, immer wieder werden dabei auch Wohnhäuser getroffen.

Aber nun bleiben die Piskovskas. Viktoria arbeitet in einer Bäckerei. Dort macht sie auch weiter, nachdem die Russen ihren Einmarsch in der Ukraine beginnen. „ Ich wollte die Menschen mit Brot versorgen“, sagt sie. Mitte März ist Awdijiwka nur wenige Kilometer von der Front entfernt. Es gibt massiven Artilleriebeschuss. Die Detonationen sind so heftig, dass Viktoria in der Bäckerei einmal sogar von einer Druckwelle zu Boden gerissen wird.
„Für uns war das ein Signal, obwohl wir den Krieg gewohnt waren“, sagt sie.

Es ist März, und die Familie lebt bereits die meiste Zeit im Keller. Nur zum Kochen geht Viktoria zurück in die Wohnung. Für ein paar Tage lässt der Artillerie-Beschuss nach. Aber dann drängen Yeva und Ethel, die beiden Töchter Viktorias, zur Flucht. In sozialen Medien haben sie Beiträge gesehen, die warnen, dass die Stadt richtig zerstört werden solle. Der Beitrag sei später gelöscht worden, berichtet Viktoria.

Aber seine Wirkung verfehlt er nicht. Die 42-Jährige und ihre beiden 17- und 18-jährigen Töchter packen das Nötigste in einen kleinen Koffer und verlassen am 16. März die Stadt, nur Viktorias Mann bleibt.

„Kleidung, Unterwäsche – ein paar Sachen haben wir mitgenommen. Was, das war nicht wichtig. Hauptsache wir bleiben am Leben“, sagt die Mutter.

Sie haben nicht viel Geld, aber über eine Whats-App-Gruppe finden sie jemanden, der sie in die etwas weiter westlich gelegene Industriestadt Pokrowsk bringt. Dort steigen sie in einen Evakuierungszug nach Lwiw.

Die drei Frauen sitzen in einem der Waggons auf dem Boden.

Auf seinem langen Weg über Dnipro und dann weiter südlich von Kiew Richtung Westen hält der Zug mehrmals auf freiem Feld, weil es Luftalarm gibt. Zwei Tage sind die Piskovskas unterwegs. Über Warschau geht es durch Polen, bis nach Berlin.

Lange ist es eine Reise ohne festes Ziel.

Hauptsache es geht nach Westen, weg vom Krieg, weg von den Raketen und dem Artilleriebeschuss. Erst im Zug nach Berlin treffen sie eine Frau, die russisch spricht und ihnen erzählt, dass es in Braunschweig Freiwillige gibt, die ihnen helfen werden. Sie entscheiden sich für Braunschweig. Von dort geht es nach Wolfenbüttel.

Über ihre Handy-Nachrichten erfahren sie, dass zu Hause in Awdijiwka in der Zwischenzeit der Krieg tobt. „Die Stadt wurde stark angegriffen“, sagt Viktoria. Auch ihr eigenes Haus und das Nachbarhaus seien von Raketen getroffen worden.

Die 42-Jährige sorgt sich um ihre Eltern, die in Awdijiwka geblieben sind. Am Telefon erfährt sie, dass Tatjana und Vitali in Sicherheit sind. Vitali kann sehr schlecht gehen. Deshalb blieb er meist zu Hause, auch wenn Luftalarm war. Während der jetzigen starken Angriffe hat aber auch er die Wohnung verlassen und im Keller eines Supermarkts Schutz gesucht. Gerade noch rechtzeitig ist er dort angekommen.

Am Eingang reißt ihn die Druckwelle einer Explosion von den Beinen.

Er kann sich aber ins Gebäude retten, erzählt Viktoria.

Am Telefon überredet sie ihre Eltern ebenfalls zu fliehen. Freiwillige würden ihnen unterwegs helfen, und in Deutschland könnten sie in Sicherheit leben, argumentiert sie. Auch die Beiden verlassen schließlich ihre Heimat. Ein bisschen Kleidung, ihre Pässe und den kleinen Hund Nika nehmen sie mit. Diesmal fährt der Zug aber nur bis ins etwa 200 Kilometer entfernte Dnipro. Dann müssen Tatjana und Vitali in einen Bus umsteigen, um nach Lwiw zu gelangen, der Stadt, die zum Flüchtlingsdrehkreuz im Westen der Ukraine geworden ist.

Von ihrem Zuhause in Awdijiwka ist nicht viel geblieben. Tatjana, die Oma, hat auf ihrem Handy ein Video. Es zeigt, wie das Haus brennt, in dem sie mit ihrem Mann gelebt hat.

„Fast alle Gebäude sind zerstört, auch die Schule“, sagt Viktoria. Auch das Haus, in dem sie mit ihren Töchtern gelebt hat, sei beschädigt.

Trotzdem hofft die Familie, dass sie bald zurückkehren können – und dass dann die Kokerei noch in Betrieb ist, in der viele Menschen aus Awdijiwka gearbeitet haben.