Der ohrenbetäubende Lärm einer Explosion reißt Helena Angerstein am Morgen des 24. Februar aus dem Schlaf. In Worsel, einem kleinen Vorort von Kiew, hat der Krieg begonnen.
Der Schock sitzt tief. Vier Tage wird die 42-Jährige nicht mehr schlafen. Sie bleibt so lange wach, bis sie mit ihrer Mutter, ihrem Mann und der viereinhalbjährigen Tochter in Wolfenbüttel in Sicherheit sind. Matthias, ihr Ehemann, stammt aus Salzdahlum. Von dort zog er 2002 in die Ukraine, um in Butscha einen Landmaschinen-Vertrieb zu leiten. Helena hat bis zuletzt auf eine friedliche Lösung gehofft. Aber nun macht ihr schon ein Blick aufs Smartphone die erschütternde Wirklichkeit deutlich. Immer neue Nachrichten von Freunden aus Kiew erscheinen auf dem Display. Sie berichten von Raketen, die in der Hauptstadt einschlagen.
Sie weckt ihren Mann. Zusammen mit der Hauptbuchhalterin fahren sie in die Firma ins benachbarte Butscha, zahlen Gehälter aus, nehmen die Computer-Festplatte mit und schließen den Betrieb. Anschließend macht sich Helena auf den Weg zum Supermarkt. Sie
kauft für mehr als 400 Euro Lebensmittel ein. In zwei Wochen ist alles vorbei, denkt sie.
Zu Hause hören sie weitere Detonationen.
Auch in Worsel schlagen Raketen ein.
Helena hat Angst. Sie beschließt: Wir müssen unter die Erde. Die Familie sucht daraufhin Schutz im Keller eines leerstehenden Sanatoriums, ganz in der Nähe.
Aber in der Nacht liegt Helena wach. Sie beginnt, die Flucht zu planen. “Wir fahren nach Westen”, sagt sie am Morgen zur Familie. Sie telefoniert mit vielen Hotels. Aber nirgends gibt es freie Betten.
Den ganzen Tag hört sie Flugzeuge und Explosionen. Abends machen ihre Nerven nicht mehr mit. Sie erleidet Panik-Attacken und packt alle Koffer.
Morgens um 6 Uhr steigen sie zu viert ins Auto: Helena, ihre Mutter, Matthias und die Tochter. Der Vater bleibt in Worsel zurück. Er ist gehbehindert und soll auf das Haus aufpassen.
Das Ziel ist schnell klar. Bei Matthias Bruder in Salzdahlum können sie unterkommen. Auf der E40 geht es Richtung Riwne. Es gibt Staus. Kurz vor der polnischen Grenze geht gar nichts mehr. Die Angersteins benötigen 38 Stunden, um die letzten 14 Kilometer zurückzulegen. Helena hört, wie Raketen explodieren. Eine Militärstation in der Nähe sei das Ziel russischer Angriffe geworden, meint sie. Die Menschen, die in der Schlange Richtung Grenze warten, haben große Angst, einige geraten in Panik.
Als sie endlich die Grenze überqueren, hat für Helena der vierte Tag ohne Schlaf begonnen.
“Ich habe gesagt: Weiter, weiter. weiter, bis nach Deutschland”, erinnert sie sich später. In Salzdahlum braucht sie eine Woche, um zur Ruhe zu kommen. Immer wenn sie eine Sirene oder einen Hubschrauber hört, kommt die Angst zurück.
Zwei Wochen später fahren die Angersteins wieder in die Ukraine, um Helenas Vater zu holen. Helena weint, als sie die Zerstörungen in Butscha sieht. In Wolfenbüttel lebt sie mit ihrer Familie in einer gemieteten Wohnung.
Matthias will das Unternehmen in Butscha wieder aufbauen.
Und auch Helena möchte zurück: “Das ist meine Heimat. Aber ich ziehe nur dahin, wenn wir die Sicherheit haben, dass die Russen nicht wieder mit Bomben und Raketen kommen. Sonst kann mein Kind dort nicht in Sicherheit aufwachsen.”
Wir organisieren Unterkünfte, Veranstaltungen und vieles mehr für Flüchtlinge aus der Ukraine. Viele Familien benötigen ein neues Heim. Wir geben den Ukrainerinnen und Ukrainern hier eine Plattform um ihre Geschichten zu erzählen.
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