Natalia Prykhodkos Familie hat die Koffer für eine Flucht schon gepackt, als die russische Invasion der Ukraine am 24. Februar beginnt. Frühmorgens wacht die 9-Jährige auf, weil zwei Kampfjets auf Fensterhöhe an ihrer Wohnung vorbei donnern. “Der Krieg hatangefangen”, sagt Natalia. Die Familie lebt im Zentrum von Poltawa, einer 300.000 Einwohner-Stadt in der Zentralukraine, gut 100 Kilometer südöstlich von Charkiw.
Der russische Angriff kommt für die Familie nicht überraschend. Dafür schwelt der Konflikt zu lange.
Natalia und ihr Mann haben einen Plan.
Sie wollen zu ihren Eltern fahren. Die haben ein Haus am Stadtrand. Das verspricht mehr Sicherheit, als der große Wohnkomplex im Stadtzentrum, in dem sie zu Hause sind.
Mit ihren beiden Kindern steigen sie ins Auto. Es ist so früh, dass die Straßen noch leer sind. Sie kommen sicher an.
Natalia lehrt als Dozentin an der medizinischen Fakultät der Universität. Aber sie sagt alle Veranstaltungen ab und rät ihren Studenten, sich ebenfalls in Sicherheit zu bringen.
In Poltawa gibt es jeden Tag Luftalarm.
Die Familie richtet sich bald ganz im Keller des Hauses ein. Dort ist es kalt, aber etwas sicherer.
Bis zum 5. März bleiben sie im Haus der Eltern. Nachdem Charkiw, die Metropole in der Ostukraine schwer bombardiert wird, entscheidet die Familie, dass Natalia und die Kinder zusammen mit der Schwester und deren Sohn fliehen sollen. Ihr Mann bleibt. Einen richtigen Fluchtplan haben die Frauen nicht. Morgens um 6 Uhr stehen sie schließlich mit den Kindern am Bahnhof in Poltawa. Kleidung und ein paar Utensilien haben sie in Rucksäcken bei sich.
Der Bahnhof ist total überfüllt. Es herrscht Chaos. Zwei angekündigte Züge sind ausgefallen. Als der nächste Zug kommt, drängen alle hinein. Natalia hat ihren fünfjährigen Sohn an der Hand, aber dann verliert sie ihre Tochter aus dem Blickfeld. Nur die Stimme des Mädchens hört sie noch ganz leise. Ihr wird klar, dass sie in dem Chaos ihre Kinder verlieren kann.
Aber wieder geht es gut. Sie fahren schließlich alle im gleichen Zug, wenn auch in zwei verschiedenen Wagons. Im Zug geht das Gedränge weiter.
Bis zur Ankunft in Lwiw in der Westukraine steht Natalia 15 Stunden. Die Kinder können auf ihren Rucksäcken sitzend schlafen.
Beängstigend wird es, als sie Kiew passieren.
Im Zug wird das Licht ausgestellt. Die Vorhänge an den Wagon-Fenstern werden zugezogen. Auch die Stadt Kiew ist komplett verdunkelt. Im Zug lauschen alle, ob sie einen Angriff oder Explosionen hören, aber wieder geht es gut.
In Lwiw helfen Freiwillige. Natalia, die Schwester und die Kinder können bei Freunden von Bekannten übernachten. Am nächsten Tag fährt sie ein Freiwilliger mit dem Auto zur polnischen Grenze. In Gruppen von 100 Menschen werden sie dort registriert. Es gibt Decken und warmen Tee und immer wieder Menschen, die helfen. In Warschau können sie bei Freiwilligen übernachten. In Berlin wartet ein Freiwilliger vier Stunden auf sie, um ihnen beim Kauf von Tickets nach Hannover zu helfen. Dort leben sie zunächst in einer Flüchtlingsunterkunft. Über Kontakte aus der Sportszene gelangen sie schließlich nach Wolfenbüttel.
Aber Natalias Perspektiven liegen in der Ukraine: ”Ich habe alles dort – Ehemann, Familie, Arbeit. Wenn es dort Sicherheit gibt, will ich wieder zurück.”
Wir organisieren Unterkünfte, Veranstaltungen und vieles mehr für Flüchtlinge aus der Ukraine. Viele Familien benötigen ein neues Heim. Wir geben den Ukrainerinnen und Ukrainern hier eine Plattform um ihre Geschichten zu erzählen.
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Henning Kramer
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